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Ein Schweizer Skirennen aus Tradition

„Inferno“ oder „Weißer Rausch“ sind bekannte Amateur-Skirennen, bei denen sich die Teilnehmenden mutig den Hang hinunterstürzen. Weniger bekannt, dafür umso traditionsreicher, ist die Amateur Inter-Club Team Championship. Bei einem Besuch des Events in Wengen atmet unser Autor den Hauch alpiner Renngeschichte.
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Ralf Kerkeling

Die Märzsonne empfängt mich strahlend auf der Kleinen Scheidegg in knapp 2.000 Metern Höhe. Mit der Jungfraubahn, einer der ältesten Hochgebirgsbahnen der Schweiz, bin ich am frühen Morgen am Bahnhof in Wengen gestartet. Die gutmütig den Berg hinaufzuckelnde Wengernalpbahn befördert zuverlässig seit 1893 Touristen und Skifahrer aus aller Welt auf das berühmte Bergplateau, das in der alpinen Bergsportgeschichte einen besonderen Platz innehat. Eine Bahnfahrt, die sich lohnt, schließlich gibt es eine monumentale Bergwelt zu bestaunen: Auf Jungfrau folgen Mönch und Eigernordwand – das wohl bekannteste Bergtrio in den Alpen.

Knapp 30 Minuten dauert die Fahrt. Nach der Ankunft auf der Kleinen Scheidegg spuckt die voll besetzte Zahnradbahn seine Insassen förmlich aus. Die Masse der Skifans verteilt sich schnell auf die umliegende Pistenwelt. Wer nicht zum Skifahren nach oben gekommen ist, steigt in eine der wartenden Bahnen um oder genießt in einem der umliegenden Cafés und Restaurants das Bergpanorama. Von dem kleinen Hochgebirgsbahnhof gehen Züge nach Grindelwald, oder es geht per Bahn durch die Eigernordwand hoch aufs Jungfraujoch (3.466 Meter). Für mich heißt es: mit dem Lift rauf zum Lauberhorn (2.472 Meter) fahren. Der Berggipfel ist gleichzeitig Namensgeber eines der traditionsreichsten Skirennen im Weltcup-Zirkus, und er dient als Startplatz der 14. Auflage der Amateur Inter-Club Team Championship, kurz AICC. Das Rennen und seine Mitstreiter sind das eigentliche Ziel meiner Reise. Es wird eine spannende und erstaunliche Reise durch die Geschichtsbücher des alpinen Skirennsports.

So kam die Kandahar in die Schweiz

Bevor wir in die Tiefen der Geschichte des AICC einsteigen, holen wir etwas aus und schauen auf den in Mürren beheimateten Kandahar Ski Club. Dieser trägt seinen Namen als eine Reminiszenz an den britischen Feldmarschall Frederick Roberts, der 1911 nach Crans-Montana kam und eine Trophäe für ein Skirennen stiftete. Der Engländer erhielt den Adelstitel Lord Roberts of Kandahar, da er sich heldenhaft bei einer Schlacht in Afghanistan hervorgetan hatte.

Besagtes Skirennen in Crans-Montana wurde fort an regelmäßig ausgetragen. Initiator dieses Skirennens war ein gewisser Sir Arnold Lunn. Er gilt als Erfinder der Slalom-Disziplin und Wegbereiter des Skitourismus. Seine Reiseagentur ermöglichte zahlreichen Briten eine Skireise, in die zum damaligen Zeitpunkt touristisch kaum erschlossene Schweiz.

Vorläufer des Skiweltcups

Wir spulen vor: Im Jahr 1924 gründen Lunn und ein paar Weggefährten den beschriebenen Kandahar Ski Club in Mürren, und die Geschichte des alpinen Rennsports nimmt ihren Lauf. Der Fortgang mündet unter dem Namen Arlberg-Kandahar-Rennen in eine Skirennserie, einem Vorläufer des heutigen FIS-Weltcups.

Die unabhängige Rennserie, kurz A-K, verliert im Laufe der Zeit jedoch an Bedeutung. Berühmte Austragungsorte dieser Rennen waren St. Anton, Mürren, Chamonix, Sestriere und Garmisch-Partenkirchen. Der Name Kandahar ist mit dem Arlberg-Kandahar-Rennen in St. Anton und der Kandahar-Abfahrt in Garmisch auch heute noch mit dem professionellen Skisport verbunden. Die AICC-Rennen wiederum knüpfen an die ursprünglichen Traditionen der A-K-Rennen an.

© AICC/Ralf Kerkeling

Britische Ski-Geschichte

Zurück zum AICC. Das erste AICC-Rennen wurde 2008 in Mürren ausgetragen. Seit der Gründung sind mittlerweile elf Skiclubs beigetreten. Die jüngsten Teilnehmer sind 18, die ältesten weit über 70. Die Skiclubs richten die Veranstaltung in einem jährlichen Rhythmus abwechselnd in ihrem jeweiligen Heimatort aus. Zumeist haben die Clubs einen britischen Hintergrund und dementsprechend viele Mitglieder aus dem Vereinigten Königreich. Etwa zwei Drittel der Teilnehmer sind Briten, das übrige Drittel verteilt sich zu etwa gleichen Teilen auf Schweizer, Österreicher, Italiener und Franzosen. Ein schöner Nebeneffekt der jährlichen Treffen: Auf diese Weise werden die Verbindungen zwischen den traditionellen Arlberg-Kandahar-Vereinen gehalten, zusätzlich sorgen neu beitretende Vereine für frischen Wind und neue Freundschaften.

Die Amateur Inter-Club Team Championship findet an den schönsten Wintersportorten in der Schweiz, Italien, Österreich und Frankreich statt. Bei meinem Besuch ist der Down Hill Only Ski Club Wengen gastgebender Verein. Neben dem DHO und Kandahar SC treten bei meiner Stippvisite Clubs wie der SC Arlberg, der Schweizerische Akademische Skiclub (SAS) oder Meribel SC gegeneinander an. Der DHO mit Sitz in London ist einer der ältesten Skiclubs in Europa und wurde 1925 in Wengen von einer begeisterten Gruppe britischer Skifahrer gegründet.

Alles andere als ein Amateur-Skirennen

Dass das Wort Amateur im Zusammenhang mit den AICC nur wenig mit Hobby zu tun hat, merke ich spätestens, als ich am Starthäuschen unterhalb des Lauberhorngipfels ankomme. Es herrscht großes Getümmel am Starthaus des berühmten Lauberhornrennes. Die Teilnehmenden sind allesamt in professionelle Skianzüge gehüllt, die Strecke nahezu identisch mit der Profistrecke. Jeder, der schon einmal hier oben im bei regulärem Skibetrieb jedermann zugänglichen Starthaus der Lauberhornabfahrt gestanden hat, weiß, was es bedeutet, sich diesen Hang hinunterzustürzen. Die Stimmung der Teilnehmenden schwankt dementsprechend zwischen Vorfreude und Anspannung.

Ich treffe Cleeves Palmer. Er ist Gründer des AICC und war langjähriger Präsident des Kandahar SC. Cleeves gibt mir kurz vor dem Start einen Einblick ins Regelwerk. So erklärt er, dass die konkurrierenden AICC-Teams aus je vier Athleten bestehen und nach Geschlecht in vier Altersklassen (18–44, 45–59, 60–69 und 70+) unterteilt werden. In den Teams der Klasse 70+ müssen mindestens zwei Damen vertreten sein. „So kann jeder der Amateur-Skirennläufer in der entsprechenden Lebensphase an einem freundschaftlichen Wettbewerb teilnehmen“, sagt Cleeves.

© Ralf Kerkeling

Britischer Weltcupsieger made in Switzerland

Die Wettbewerbsergebnisse der AICC basieren dabei auf den Leistungen aus einem Riesenslalom und eines Super-G. Zusätzlich wird ein Parallelslalom organisiert. Dieser zählt zwar nicht für den Gesamtsieg, macht aber umso mehr Spaß, da sich die Teams untereinander mischen.

Für Cleeves ist Skilaufen eine echte Leidenschaft, das merkt man schnell. Ich erfahre, dass er nicht nur sehr viel Freizeit und Energie in seine persönliche Amateur-Rennkarriere gesteckt, sondern auch den Ski Club Kandahar von einem leicht angestaubten Traditionsklub von Skitouristen in einen gut strukturierten Sportverein mit Jugendtrainings und -förderprogrammen transformiert hat. Ein „Produkt“: der Technikspezialist Dave Ryding, 2022 Triumphator des Slaloms am Ganslernhang von Kitzbühel und damit der erste britische Sieger im Weltcup.

Starterfeld mit Skilegenden

Bei meinem weiteren Gang durch das Starterfeld entdecke ich Skilegenden wie den Österreicher Werner Margreiter. Der ehemalige Abfahrtprofi und Trainer ist mit der gleichen Leidenschaft dabei wie die alle Teilnehmer, die sich nun peu à peu ins Starthaus begeben.

Starter für Starter geht jetzt auf die Abfahrt Richtung Wengen. Besonders beeindruckend: die ältesten Teilnehmer des Feldes. Als sich der letzte Starter gen Tal verabschiedet, mache ich mich ebenfalls auf, schwinge genussvoll carvend die Piste hinunter. Dieser Tag war ein besonderer in meiner Zeit als skifahrender Journalist. Am Abend mische ich mich während des Parallelslalom-Wettbewerbes unter die euphorischen Mitglieder der verschiedenen Skiclubs. Viele weitere Anekdoten aus der Welt des AICC machen die Runde, werden um neue Erlebnisse ergänzt. Die Eindrücke des Tages begleiten mich auf dem Weg zurück ins Hotel. Eine Reise mit überraschenden Erlebnissen neigt sich so dem Ende ...

© AICC/Ralf Kerkeling

Zukünftige AICC-Rennen

  • 2024 St. Moritz
  • 2025 Klosters
  • 2026 La Molina

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