Es ist noch nicht richtig hell, als wir an diesem eiskalten Februarmorgen auf der Hängebrücke bei Forchach den Lech überqueren. Obwohl wir heute viel vorhaben, gönnen wir uns einen Moment des Innehaltens: Ja, es hat schon seine Berechtigung, dieses Stück wilde Natur zwischen Allgäu und Arlberg als Klein-Kanada zu bezeichnen. Der Lech ist der letzte Wildfluss Tirols. Er darf sich seinen eigenen Weg suchen, ganz ohne Wehre und Staustufen. Bergführer Hubertus „Hubs“ Lindner gefällt das. Er ist ebenfalls einer, der lieber seinen eigenen Weg geht – im Leben, und eben auch heute.
Skitour fern vom Massentourismus
An einem perfekten Wintertag wie heute drängen sich an Modebergen wie Namloser Wetterspitze oder Hinterer Steinkarspitze viele – zu viele – outdoorbegeisterte Menschen. Hubs hat deshalb eine Skitour ausgesucht, die ins gefühlt hinterletzte Eck der Naturparkregion führt: Das unbewohnte Schwarzwassertal ist ein schier endlos langer Schlauch, der sich im Sommer mit dem Mountainbike erkunden lässt, bis man ganz hinten die türkisfarbenen Sieglseen erreicht. Im Winter verirrt sich jedoch nur selten jemand hierher. Zu lang ist der Zustieg für durchschnittlich ambitionierte Wintersportler.
Zum Glück sind Hubs und seine Frau Claudia Besitzer von fünf sibirischen Huskys. Die ziehen zwar keinen Schlitten durch die tief verschneite Landschaft, aber Skitourengeher wie uns, die Energie und Kondition sparen wollen, sehr wohl. Anfangs bin ich skeptisch, doch Vallu und Vigo, meine beiden Rüden, legen sich ins Zeug, als ob sie einen liegen gebliebenen Vierzigtonner von der Autobahn schleppen müssten. Man merkt: Diese rasenden Fellbündel ziehen nicht das erste Mal Menschen und bringen ordentlich PS auf die Piste. Wir beginnen uns zu entspannen, wagen es, den Blick über buschige Schwänze, spitze Ohren und unablässig arbeitende Pfoten zu heben. Meine Freundin Nicole dreht sich um und ruft mir zu: „Ist das nicht der Wahnsinn? Ich fühle mich wie in ‚Der letzte Trapper‘!“ Natürlich lassen wir uns nicht komplett ziehen, sondern arbeiten kräftig mit. Denn im Gegensatz zu uns, die wir Kleidungsschichten ablegen können, arbeiten die Huskys in einem Pelzmantel ohne Reißverschluss.
Skitour mit Mensch und Hund
Stundenlang gleiten wir so dahin. Hören nur das Knirschen des trockenen Schnees unter den Skikanten. Dringen immer weiter in diese weiße Einsamkeit unter dem blassblauen Himmel vor. Inhalieren die stille und prächtige Landschaft, die wir ganz für uns haben. Und wundern uns natürlich über Hubs, der vorneweg spurt, und zwar ganz ohne Hunde. Na ja, wirklich überrascht sind wir nicht, denn Hubs ist einer, der über sich selbst sagt: „Ich war eine Leistungssau.“ Der gebürtige Niederösterreicher wuchs auf einem Bergbauernhof am Rande des Nationalparks Gesäuse auf und half als Kind den ganzen Sommer beim Heuen und beim Versorgen des Jungviehs auf der Alm. Später trat er jedes Wochenende als Kader-Athlet bei Skilanglaufrennen quer durch Europa an, studierte Wirtschaftsinformatik, wurde Manager in einer Klinik-Holding mit 14-Stunden-Tagen, Trainingseinheiten in der Nacht und Nordwand-Durchsteigungen am Wochenende.
Inzwischen sind wir aus dem Schwarzwassertal nach Süden Richtung Rosszahn-Gruppe abgebogen. Die „Rosszähne“ machen ihrem Namen alle Ehre: Durch einen lichten Latschengürtel halten wir auf ein hochalpines, von steilen Felswänden eingefasstes Amphitheater zu – Dolomiten-Ambiente pur! Im Gipfelbereich des Kleinen Rosszahns, unserem Tagesziel, entdecken wir sogar Steinböcke, die schnell das Weite suchen, als sie die Witterung dieser ungewohnten Gespanne aus Menschen und Hunden aufnehmen. Hubs sagt, er sehe keine alten Aufstiegsspuren im Schnee, vermutlich seien wir die ersten Besucher in diesem Winter. Er gräbt mit seiner Lawinenschaufel ein Schneeprofil ab, um zu prüfen, wie groß die Gefahr eines Schneebretts ist. Immerhin herrscht Lawinenstufe 3 (von 5). Weil der freigelegte Block mit nur geringer Zusatzbelastung ins Rutschen gerät, fällt die Entscheidung leicht: Wir verzichten auf den Gipfel, gönnen uns und den Huskys lieber eine längere Pause.
Berge statt Karriere
Hubs erzählt dabei von der Dresdnerin Claudia, die er über eine Partnervermittlung angeschrieben hatte. Die Grafikerin lebte damals bereits im Lechtal, hatte drei Sommer auf Berghütten gejobbt und keine Lust mehr auf Großstadt. Doch das erste Date geriet zur Katastrophe mit Ansage. „Es fand nämlich gar nicht statt. Ich habe sie versetzt und bin in die Ortler-Nordwand eingestiegen, weil die Verhältnisse so gut waren.“ Daraufhin erklärte ihm Claudia, dass sie keine Lust auf egoistische Freaks wie ihn habe, gab ihm aber eine zweite Chance. Die „Kopfwäsche“ machte Eindruck auf Hubs. Fortan pendelte er ein ganzes Jahr lang fast jedes Wochenende viele Stunden ins Lechtal. Parallel dazu konzentrierte er sich auf die fast dreijährige Ausbildung zum staatlichen geprüften Berg- und Skiführer. Und er traf eine längst überfällige Entscheidung: Er kündigte mit 35 seinen Managerjob, verzichtete auf Dienstauto und üppiges Gehalt. Stattdessen schmiedeten er und Claudia Pläne: Sie wollten eine eigene Bergschule gründen.
Er hatte die Reißleine gezogen, aber einen Tick zu spät. „Beim Führen in den Westalpen war ich nicht mehr richtig fit. Ich kämpfte mit Erschöpfungszuständen und Depressionen. Wenige Tage später war die Gehirnblutung da.“ Ein Aneurysma war geplatzt, er schwebte in akuter Lebensgefahr. Heute bezeichnet Hubs diesen 24. August 2014 als seinen zweiten Geburtstag: „Von hundert Leuten werden nur drei wieder so komplett gesund wie ich.“ Er habe damals gemerkt, dass ihn das permanente Gasgeben fast das Leben gekostet hätte.
Skitour-Helfer auf vier Pfoten
Auf den Gipfel verzichten – das wäre früher keine Option gewesen. Jetzt freut Hubs sich, freuen wir uns auf eine genussvolle Abfahrt im unverspurten Pulverschnee. Was für ein Spaß, den Huskys dabei zuzuschauen, wie sie sich beim Versuch, ihrem Musher zu folgen, im grundlosen Weiß fast überschlagen. Beim Weg zurück durch das lange Schwarzwassertal sind sie uns abermals eine enorm große Hilfe, denn es sind einige Gegenanstiege zu bewältigen. Als wir am späten Nachmittag und nach rund 30 Kilometern auf Ski wieder am Auto ankommen, sind wir uns einig: Ohne Hunde wären wir jetzt noch weit entfernt von einer wärmenden Speckknödelsuppe.
Hubs möchte das Skitouren-Angebot mit seinen vierbeinigen Lieblingen ausbauen. Denn erstens kommt er so zu Runden, die auch ihn fordern und müde machen. Und zweitens erweitert er den Aktionsradius mit seinen Gästen im Winter ganz erheblich.
Alaska im Lechtal
Anderntags ziehen wir deshalb die Felle in Boden im Bschlabertal auf, einem langen Seitental des Lechtals. Vallu kann es kaum erwarten, bis es losgeht. Er reißt mich fast um, so stark zerrt er an dem Karabiner, den ich in meiner Rucksackschlaufe eingeklinkt habe. An den wettergegerbten Holzhäusern von Pfafflar vorbei gelangen wir ins Fundaistal. Der Wind weht heute etwas stärker, der aufgewirbelte Schnee und ein gefrorener Wasserfall lassen die Landschaft richtig arktisch wirken. Wir fühlen uns, als ob wir mit den Huskys an einem der berühmten Schlittenhunde-Rennen im Yukon oder in Alaska teilnehmen würden.
Ganz allein, so wie gestern, sind wir hier zwar nicht. Aber der alpine Charakter der Skitouren dämpft den Ansturm der Massen auf ein sehr erträgliches Maß herunter. Überhaupt findet man im Lechtal noch viele ruhige Reviere, weil die meisten Ziele skitechnisch anspruchsvoll und für Tagesausflügler aus München zu weit entfernt sind. Für Könner wie Hubs ist das freilich ein Paradies: „Da reicht ein ganzes Leben nicht aus, um alle Touren kennenzulernen.“ Unseren heutigen Aufstieg beenden wir am gut 2.500 Meter hohen Brunnkarjoch. Dank der Unterstützung von zweimal oder sogar dreimal vier Pfoten haben wir noch genug Kraft in den Beinen, um die Abfahrt in vollen Zügen so richtig genießen zu können.
Zwei Hunde-Skitouren sind genug
Der Abschied von Vallu und Vigo sowie den drei Husky-Damen Rosa, Yuta und Lilly am dritten Tag fällt schwer. Das Rudel ist uns richtig ans Herz gewachsen, aber eine dritte Tour in drei Tagen möchte Hubs seinen vierbeinigen Gefährten nicht zumuten. Vor allem merken wir am folgenden Tag, dass Skitouren ohne Schlittenhunde-Turbo deutlich anstrengender sind.
Zum Glück ist die Route von Boden über das Sattele genannte Joch nach Gramais nicht allzu lang. Ein majestätisch über uns kreisender Bartgeier und ein ganzes Rudel Gämsen versüßen uns den Aufstieg zusätzlich. Und dann stehen wir auch schon am Joch und schauen hinab nach Gramais, mit nicht einmal 40 ständigen Einwohnern Österreichs kleinste Gemeinde – und seit einem Jahrzehnt das Zuhause von Claudia und Hubs Lindner und ihrem Sohn Darius.
Zwischen Skitour und Schafstall
Als der Niederösterreicher ins Lechtal kam, verliebte er sich nämlich nicht nur in Claudia, sondern auch in die wilden Berge seiner Wahlheimat. Und ihm gefiel der nachhaltige und authentische Tourismus, der Naturliebhaber und Ruhesuchende anspricht, der Brauchtum und Tradition hochhält. „Als wir Gramais entdeckten, war der Neuanfang am Talschluss beschlossene Sache“, erzählt Hubs. „Hier leben keine Hinterwäldler, sondern innovative, fleißige Menschen mit eigenen Visionen.“
Als wir mit den Ski am oberen Ortsende abschwingen, empfängt uns schon Gerd Kipping. Der gebürtige Hamburger blieb bereits in den 1950er-Jahren in Gramais hängen. Er und seine Frau Irmgard vermieten zwei Ferienwohnungen und halten Walliser Schwarznasenschafe. Im Sommer grasen diese am hoch gelegenen Roßkarsee und lassen sich die Bergkräuter schmecken. Dorthin treibt Hubs die Schafe im Juli auf, Mitte September holt er sie dann wieder herunter. Im Winter bleiben sie im Stall, wo Hubs sich nach seinen Führungstouren zum Ausmisten und Füttern einfindet. So funktioniert gelebte Nachbarschaftshilfe, die außerdem die Bergbauernwirtschaft am Leben erhält.
Ein Geschenk vom Karma
Am Ende dieser Tourentage sehen wir die Huskys doch noch einmal: auf der Terrasse des Holzhauses, das die Lindners im „Tiny House“-Stil samt Mini-Hostel, Büro und Lager für die Bergschule am Ortsrand von Gramais gebaut haben. Die Hunde genießen hier viel Auslauf, wenn sie einmal nicht gerade mit Tourengehern in den Bergen unterwegs sind. Für seine zweibeinigen Gäste hat Hubs sogar einen Klettergarten am gegenüberliegenden Schrofen eingerichtet.
„Unser Weg war ungewöhnlich. Aber wir haben hier alles, was wir brauchen“, sagt er. „Ich bin froh, dass ich weiterleben darf und mir mein Karma diesen Platz und meine Familie geschenkt hat.“ Aus der „Leistungs-Sau“ von früher ist mit Sicherheit kein Müßiggänger geworden – eine „Empathie-Sau“ aber auf jeden Fall.
Huskys auf Skitour: Respekt & Vertrauen
Die Lindners arbeiten ausschließlich mit der Züchterin Sylvia Gusinde (www.zausels-siberian-huskies.de) zusammen. Um im Rudel zu harmonieren und den hohen Anforderungen im alpinen Gelände gerecht zu werden, müssen die jungen Huskys bestimmte Kriterien in Bezug auf Verhalten und Anatomie erfüllen. Die Züchterin trifft deshalb eine Vorauswahl, bevor ein Tier für eine Skitour ausgesucht werden kann. „Nicht jeder Husky ist einer Skitour mit fremden Menschen mental gewachsen“, erklärt Hubs. „Die Tiere müssen enorm viel Vertrauen haben. Denn Tatsache ist, dass sich die Hunde die Routen nicht aussuchen können. Wir beobachten unsere Huskys daher auf jeder Tour und beim täglichen Training intensiv und brechen auch mal ab, wenn etwas nicht passt.“ Zudem werde das Training auf jeden Husky individuell zugeschnitten. Im Gespann gelinge dies am besten, wenn man die Hunde an der richtigen Position laufen lässt und aktiv mit der Leine und der Variation des Tempos arbeitet. Das benötige viel Aufmerksamkeit, Übung, mentalen Fokus, Kraft und Kondition.
„Sich einen Husky anzuschaffen, bedeutet viel Verantwortung“, sagt Hubs. „Einzelhaltung ist nicht artgerecht. Zudem benötigen die Tiere genügend Auslauf. Auf der anderen Seite ist es aber auch nicht artgerecht, Huskys als Trainingsgerät auszunutzen und sie zu überfordern. Sie verdienen unseren Respekt. Huskys unterwerfen sich nicht wie domestizierte Hunde. Man darf ihnen niemals den eigenen Willen aufzwingen. Sobald das der Fall ist, hören sie auf zu arbeiten und entfremden sich zusehends von Herrchen oder Frauchen.“
Das Abfahren mit nicht angeleinten Huskys im freien Gelände sollte immer wieder geübt werden. „Das Rudel muss eine enge Bindung an den Musher haben. Andernfalls geht es seine eigenen Wege“, erklärt Hubs. Das erfordere skifahrerisches Können: „Ich muss stets vor dem Rudel bleiben. Das ist Voraussetzung dafür, dass es sich nicht im Gelände verteilt und zu jagen beginnt.“
Ab diesem Winter bietet die Bergschule Lechtal Seminare an, bei denen Interessierte mit ihren eigenen Hunden in die Welt des „Husky Mountaineering“ hineinschnuppern können.
Info: Naturparkregion Lechtal
Geografisch wird das Lechtal im Süden von den Lechtaler Alpen und im Norden von den Allgäuer Alpen begrenzt. Die Quelle des Lechs liegt in Vorarlberg, das Lechtal selbst auf Tiroler Gemarkung.
Anreise:
- Auto: Von Deutschland mautfrei durch den Grunztunnel Füssen über Reutte ins Lechtal oder von der A7 Ausfahrt Oy/Mittelberg und Oberjoch über Tannheimer Tal und Weißenbach.
- Bahn: Für die Anreise mit der Bahn empfehlen sich die nahen Bahnhöfe Reutte und Füssen. Internationale Bahnhöfe stehen in Imst, Garmisch, Innsbruck und München zur Verfügung. Von da aus mit dem Bus.
Wohnen: Alle Zimmer, Pensionen, Hotels und Ferienwohnungen unter www.lechtal.at. Sehr schön und ruhig wohnt man im modernen Vier-Sterne-Hotel „LechZeit“ (www.lechzeit.com) gleich neben dem Naturparkhaus Klimmbrücke bei Elmen.
Bergführer: Hubertus Lindner, www.bergschule-lechtal.com, T: +43-664-8418058 – Neben Skitouren (auf Wunsch mit den Huskys) werden im Winter auch Schneeschuhwandern und Eisklettern angeboten.
Medien: Dieter Elsner und Michael Seifert: „Skitourenführer Lechtaler Alpen“, Panico Verlag; Stephan Baur: „Allgäuer Alpen und Lechtal“, Rother Skitourenführer
Gaumenfreuden: Lechtaler Naturkäserei Sojer: www.kaesereisojer.at
Tourismusverband: www.lechtal.at